Klarer Fall: Wenn man ein Klavier hat, das schon zwei Generationen dazu gedient hat, das Klavier spielen erfolgreich zu lernen, dann soll es das auch der heranwachsenden Generation ermöglichen. Warum nicht. Aber mal ehrlich: Welchen funktionellen Gegenstand haben wir heute noch in Gebrauch, den man über mehrere Generationen vererben kann? Das Piano zeichnet sich durch eine außergewöhnliche Lebensdauer aus. Da ich überregional mit meiner Marke Praeludio© Klaviere stimme, die bis über 160 Jahre alt sind, gehe ich davon aus, dass vor allem die Lebensdauer hochwertiger Marken und Pianos, die um 1900 gebaut worden sind, rund 200 Jahre beträgt. Das Tasteninstrument aus diesem Hörbeispiel ist ein Klavier der Marke Willis, hergestellt in Landshut. Es könnte rund 70 Jahre alt sein. Mangels einer Seriennummer ist das nicht eindeutig feststellbar.
Der Auftrag ist klar formuliert: Das Familienerbstück soll nach einer längeren Spielpause für die Tochter spielbar gemacht werden. Aktuell ist die Mechanik zwar spielbar, aber das Instrument klingt nicht sehr schön.
Verstimmung 425 HertzDer Grad der Verstimmung ist nicht extrem. Aber intuitiv bin ich skeptisch. Die Vorahnung eines Klavierstimmers. Nach dem Hören meines Probespiels gehe ich wie üblich vor. Zuerst prüfe ich die Stärke der Stimmnägel, um den passenden Einsatz für den Stimmhammer zu wechseln. Doch nur durch das Berühren eines Stimmnagels rutscht dieser komplett weg. Hoppla! Das ist aber ein deutlicher Hinweis, mir das Klavier genauer anzusehen. Auf dem Bild oben kann man keinen Schaden im Stimmstock erkennen, da die Gussplatte im so genannten Wirbelfeld geschlossen ist. Wirbelfeld heißt der obere Bereich der Gussplatte, der den Stimmstock überdeckt, da man die Stimmnägel auch Wirbel nennt.
Also werfe ich einen Blick unter dem Spieltisch auf den Resonanzboden. Die großen Risse bestätigen meine Ahnung, dass es nicht leicht sein wird, das Ziel der guten Stimmung wie üblich zu erreichen.
Ein zweiter Blick auf den oberen Bereich liefert einen weiteren Hinweis, dass im Stimmstock ein Schaden vorliegt: Ein Stimmnagel wurde ausgetauscht. Das macht man in der Regel, wenn die Stimmnägel die hohe Spannung der Klaviersaiten nicht mehr halten können. Dann versucht man die Stimmhaltung zu verbessern, indem man stärkere Stimmnägel einsetzt.
Nun bin ich also gewarnt. Mal sehen, was sich während des Stimmens noch herausstellt. Meine ersten Tests ergeben, dass das Klavier hinsichtlich der Stimmhaltung zumindest grenzwertig ist. Daher informiere ich zuerst einmal über die Klavierbesitzer. Denn das Stimmen könnte sich anschließend anders als üblich entwickeln.
Meine Kunden sind von der negativen Tendenz der Nachricht natürlich wenig begeistert. Aber am Ende sind Sie dankbar für die klaren Aussagen. So kann man die weitere Entwicklung konkret beobachten und weiß, woran man ist.
Das Stimmen entwickelt sich wie vermutet tatsächlich außergewöhnlich. Immer wenn man auf einen Stimmnagel trifft, der die hohe Saitenspannung der Klaviersaiten nicht mehr halten kann, muss man entweder zu einer großen Reparatur drängen oder schlicht feststellen, dass das Klavier so nicht mehr stimmbar ist. Aber wie sieht so eine Reparatur aus, wenn die Stimmnägel nicht mehr halten? In der Regel reparieren die verbliebenen Klavierbauer nach den Möglichkeiten ihrer Werkstatt. Da diese Werkstätten nicht für umfassende Reparaturen ausgerüstet sind, ist es den meisten nicht möglich, einen kompletten Stimmstock zu erneuern. Also setzt man stärkere Stimmnägel ein. Aber die Ursache für schlecht haltende Stimmnägel und somit eine mangelhafte Stimmhaltung sind Risse im Stimmstock, die dadurch entstehen, wenn ein Klavier zu trocken steht. Der Stimmstock sitzt beim Klavier oben (und beim Flügel vorne). Er ist aus Holz und in ihm stecken die so genannten Stimmnägel. Bei unserem Klavier kann es sich hinsichtlich der Ursache für den Schaden um eine Kombination handeln. Denn zum einen soll das Instrument früher einmal generalüberholt worden sein, und das heißt unter anderem, dass neue Saiten aufgezogen worden sind. Zum anderen steht das Klavier vermutlich seit 10 Jahren auf einer Fußbodenheizung, was für ein altes Klavier aus Massivholz einem Todesurteil gleicht. Denn der kontinuierliche Warmluftstrom der Fußbodenheizung führt dazu, dass das Holz austrocknet. Das sieht man konkret an den Rissen im Resonanzboden. Dort hat sich das Holz im Trocknungsprozess so stark zusammengezogen, dass es zerrissen ist. Der Riss ist ein sichtbarer Schaden im Holz und typisch für Massivholz. Uns sind diese Risse weitgehend von den unverputzten Balken in Fachwerkhäusern bekannt.
Bei der folgenden Aufnahme des Stimmens hören Sie eine Vielzahl solcher Töne, die die Spannung nicht mehr halten - und somit zahlreiche Gründe, den Auftrag als nicht durchführbar abzubrechen. Doch um die gute Stimmung muss man eben auch mal kämpfen. Das heißt, man muss fachlich gesehen Notoperationen durchführen, die es eventuell ermöglichen, dass das Klavier doch noch gestimmt werden kann. Auf diesen spannenden Versuch habe ich mich eingelassen:
Klavier stimmen liveBestimmt fragen Sie jetzt: Und wie ist die Geschichte ausgegangen? Nun, wenn Sie die Aufnahme vom Stimmen bis zum Ende angehört haben, dann wissen Sie vermutlich schon, dass es noch einmal geglückt ist, das Piano zu stimmen. Natürlich konnte ich keine Konzertstimmung erreichen. Doch es klang zumindest wesentlich besser als vorher, meinten die Klavierbesitzer:
Trotz Schaden gestimmt